s-l-a1996
  Wien um die Jahrhundertwende
 

"WIEN ZUR JAHRHUNDERTWENDE"

Um die Jahrhundertwende zeigt sich Österreich in vieler Hinsicht ambivalent. Kaiser Franz Joseph ist Symbolgestalt der Treue gegenüber der unter ihrem Wert geschlagenen Tradition und Größe, aber auch der Phantasielosigkeit und Erstarrung. Wien war neben Paris für ungefähr 25 Jahre Zentrum Europas und Zentrum eines Vielvölkerstaates mit vielen Sprachen, Kulturen und Religionen.

Die Jahrhundertwende war zugleich Endzeitalter und Aufbruch der Moderne. Alle großen Persönlichkeiten dieser Zeit - Wiener Maler, Literaten, Komponisten, Philosophen und Architekten - litten am Bruch, der durch ihre Zeit ging: Altenberg, Berg, Klimt, Kokoschka, Kubin, Loos, Mahler, Musil, Schiele, Schnitzler, Schönberg, Wittgenstein. Walzerrausch, Liebelei und Kaiserglanz standen der Agonie, dem Elend und dem Untergang des Kaiserreiches gegenüber. Karl Kraus sprach von "einer ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst werden könnte ..." Es ist eine Zeit der Verunsicherung. Besitzende Schichten befürchten den Verlust des Erreichten, während sozial aufrückende Bevölkerungsgruppen Angst treibt, die vorherrschende Unsicherheit nicht rasch genug zu überwinden. Für die Probleme des Vielvölkerstaates werden keine Lösungen gefunden. Obwohl die Geschichte lehrt, daß Kleinstaaten leicht zur Beute von Großmächten werden, floriert die nationalistische Demagogie. Erst die Psychoanalyse von Sigmund Freud weist die gleichzeitige Wirksamkeit widerstreitender Gefühle und Tendenzen als wirksamen Motor nicht nur beim Neurotiker nach und hob auch Gegensatzpaare im Trieb- und Seelenleben ans Licht. Frau und Herr Österreicher verhalten sich gegenüber ihrer Heimat ähnlich wie zum Tod, den sie - obwohl als unausweichlich erkannt - ebenso ignorieren wie verdrängen. Der Staat zwischen Hochblüte und Verfall, zwischen Sachlichkeit und Romantik lebt mit vielen Widersprüchen. "Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit" wird zum Motto der Künstlervereinigung Sezession, die - von Gustav Klimt gegründet - sich gegen den Historismus und Eklektizismus wendet. Der Aufbruch soll überkommene Traditionen abstreifen.

Neben Mythenschöpfern finden sich Mythenzerstörer: Hat Klimt seine Träume auf leuchtenden Goldgrund gemalt, Schiele ihren Abglanz im Abendhimmel hinter den "Vier Bäumen", so finden sie sich bei Kokoschka im Fleisch eines verwesenden Hammels; Mahler hat sie in seine Symphonien aufgenommen. Zählen Freud und Schnitzler, der Freund, den jener seinen Doppelgänger nannte, Hofmannsthal und Klimt zu den Mythenschöpfern, so sind die Mythenzerstörer Kraus, Loos, Schönberg, Wittgenstein radikaler, Menschen ohne Mythos, d.h. ohne Phrase und Klischee, ohne Schmuck und Ornament, ohne die Freuden der vertrauten Tonalität, ohne den Schutz metaphysischer Systeme.

Klimt, Kokoschka und Schiele behandeln im Fin de siécle als wichtigste Themen die Polarität von Liebe und Sterben, Leben und Tod wie Metamorphosen. Freuds Forschungen ergaben, daß der Todestrieb als Gegenpol der Libido ebenso elementar sei wie der Sexualtrieb. Die Zeit der Jahrhundertwende ist gekennzeichnet durch extreme Subjektivität: Alle gesellschaftlichen, politischen und intellektuellen Probleme werden auf das Ich bezogen. Das Ich bietet keinen festen Standpunkt, zerfällt und droht sich aufzulösen vor dem Untergang der Monarchie mit dem Verlust des Fortschrittglaubens und der religiösen Bindungen, der Entstehung der Psychoanalyse und der beginnenden Emanzipation der Frauen.

Mit 1918, dem Todesjahr von Klimt, Schiele, Moser und anderer Künstler, endet eine einzigartige Zeitperiode. Auch wenn diese Zeit dahinstarb, ohne dies zu bemerken, führt sie uns vor Augen, daß sie in Schönheit starb, während sich Neues aufbaute.

 
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